„Durch Antifeminismus entstehen enorme Kosten.“

Interview

Vor allem bei den Themen Gewalt, Sucht und Straßenverkehr dominieren Männer die negativen Statistiken. Der Ökonom Boris von Heesen hat versucht, den “hohen Preis des Patriarchats” zu beziffern: Nach seiner auf abgesicherten Daten beruhenden Schätzung kostet schädliches männliches Verhalten die Gesellschaft jedes Jahr mindestens 63,5 Milliarden Euro. Noch gar nicht einbezogen sind dabei schwer erfassbare Nebenwirkungen wie die Folgen antifeministischer Ressentiments oder Handlungen.

Lesedauer: 8 Minuten

Interview: Thomas Gesterkamp


Herr von Heesen, Sie arbeiten in einer Männerberatungsstelle und sind Geschäftsführer eines Jugendhilfeträgers. Wie sind Sie auf die Idee gekommen auszurechnen, “was Männer kosten” - so lautet der Titel Ihres Buches?

Boris von Heesen: Ich möchte auf eine gravierende gesellschaftliche Schieflage hinweisen. Meine Initiative fußt dabei auf verschiedenen Quellen. Ich bin Wirtschaftswissenschaftler und habe in der Sucht- und Jugendhilfe über viele Jahre Erfahrungen mit dem Ungleichgewicht der Geschlechter gesammelt. Zudem habe ich eines der ersten Online-Marktforschungsunternehmen gegründet und mir so die notwendigen Kompetenzen im Umgang mit statistischen Daten angeeignet.

Sie verwenden den vielzitierten Fachbegriff der “toxischen Männlichkeit”, allerdings mit einer gewissen Distanz...

Geschlagene Frauen: 2,75 Milliarden

81 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt sind weiblich. Sie verursacht direkte Kosten von mindestens 803 Millionen Euro. Diese Zahl erfasst nur das sogenannte Hellfeld, jene Delikte, die den Behörden bekannt sind. 109 Millionen entfallen auf die Polizei, 205 Millionen auf die Justiz, 193 Millionen auf Frauenhäuser und Beratung sowie 296 Millionen auf das Gesundheitswesen. Hinzu kommen indirekte Kosten durch Krankheit und Arbeitslosigkeit der Betroffenen sowie Traumata bei Kindern in Höhe von 1,95 Milliarden Euro.

von Heesen: Ich spreche lieber von “ungesundem” männlichen Verhalten, das sich durch soziale Zwänge und Rollenstereotype herausbildet. Männer laufen Gefahr, schädlichen Mustern zu folgen, die in solchen Prägungen ihren Ursprung haben, Beispiele dafür sind etwa Gewalt gegen Frauen oder Sexismus. Deshalb halte ich es für wichtig, dass Männer ihre Rolle fortwährend kritisch reflektieren. Den Begriff der toxischen Männlichkeit vermeide ich eher. Er differenziert zu wenig die Ursachen des Fehlverhaltens - und könnte so verstanden werden, dass Männlichkeit grundsätzlich schädlich ist oder gar alle Männer “toxisch” sind. Das ist selbstverständlich nicht der Fall.

Welche ökonomischen Kosten verursacht männliches Fehlverhalten denn im Detail?

von Heesen: Da unterscheide ich zwischen direkten und indirekten Kosten. Gefängnisaufenthalte, Drogentherapien, Polizeieinsätze, verwüstete Züge nach Fußballspielen oder der Betrieb von Frauenhäusern verursachen direkte Kosten, sie stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang zu einem Verhalten. Dazu kommen aber weitere Kosten, die erst in einem zweiten Schritt entstehen. Entgangene Einnahmen der Sozialkassen aufgrund von Krankheit oder Arbeitslosigkeit als Folge eines Unfalls oder einer Straftat sind etwa solche indirekten Aufwendungen. Zu wenig beachtet wird auch, dass Männer sich ja selbst schädigen durch ihr Verhalten. Hierauf ist die immer noch knapp fünf Jahre kürzere Lebenserwartung und auch die dramatisch höhere Suizidrate von Männern zurückzuführen.

“Der Fels in der Brandung ist in vielen Köpfen verankert”

Was sind die größten Kostentreiber von “ungesundem” männlichen Verhalten für die Gesellschaft?

Berauschte Männer: 43,93 Milliarden

Drei von vier Alkoholabhängigen sind männlich. Allein ihr deutlich höherer Konsum von Bier, Wein oder Schnaps verursacht gesellschaftliche Mehrkosten von 26,22 Milliarden Euro. Knapp einer Million starken Rauchern stehen 400.000 starke Raucherinnen gegenüber. Der mehr als doppelt so hohe männliche Tabakkonsum verursacht Zusatzkosten von 14,98 Milliarden Euro. 88 Prozent der “pathologischen” Glücksspieler sind Männer, Mehrkosten 0,33 Milliarden Euro. Vier von fünf Konsumenten illegaler Drogen sind männlich, Mehraufwendungen 2,4 Milliarden Euro. Die Kosten des Suchtverhaltens von Männern, fasst von Heesen prägnant zusammen, entsprechen der “Höhe des Bruttoinlandsprodukts von Serbien”, nämlich 43,93 Milliarden Euro.

Diebstahl und Einbrüche: 1,34 Milliarden

70 Prozent der jährlich 1,5 Millionen Tatverdächtigen bei Diebstahldelikten sind Männer. Bei schweren Vergehen wie mit Gewaltanwendung verbundenen Einbrüchen steigt ihr Anteil auf 87 Prozent. Mehrkosten durch männliche Straftäter 1,34 Milliarden Euro.

Ungesunde Ernährung: 6,25 Milliarden

46,7 Prozent der Frauen und 61,6 Prozent der Männer sind übergewichtig. Letztere essen deutlich mehr Fleisch, dafür weniger Obst und Gemüse. Der männliche Anteil unter den sich vegetarisch Ernährenden liegt nur bei 20 Prozent, bei den Veganerinnen noch darunter. Die Mehrkosten durch ungesundes Essen und Übergewicht betragen insgesamt über sechs Milliarden Euro.  

von Heesen: Mit allein fast 44 Milliarden Euro pro Jahr steht die Sucht einsam an der Spitze. Und dieses Problem strahlt auf viele andere Felder ab, die ich untersucht habe. So verursachen Männer mit dem Auto fünfmal häufiger Verkehrsunfälle mit Personenschäden, wenn sie Alkohol getrunken haben. Diebstähle, die zu 70 Prozent von Männern verübt werden, haben oft mit Beschaffungskriminalität für Drogen zu tun. Ein weiterer Faktor sind die Folgen ungesunder Ernährung. Männer trinken viermal mehr Softdrinks als Frauen und sechsmal so viel Bier. Sie essen fast doppelt so viel Fleisch und viel mehr Salz. Das Bild des Felsens in der Brandung, der ohne Rücksicht auf Verluste essen und trinken kann was er will, ist immer noch in vielen Männerköpfen verankert.

Viele der aufgelisteten Themen sind Probleme, mit denen Polizei, Justiz und Sozialarbeit ständig zu tun haben. Gibt es nach Ihrer Beobachtung in den involvierten Institutionen einen geschlechtsspezifischen Blick darauf?

von Heesen: Sicherlich gibt es ein Bewusstsein dafür, dass all diese belastenden Statistiken von Jungen und Männern deutlich dominiert werden. Aber, und das finde ich irritierend, der geschlechtsspezifische Blick hört dann auf, wenn es darum geht die Probleme wirklich nachhaltig zu bearbeiten. Das fängt schon damit an, die entsprechenden Daten nicht in Aktenordnern und internen Tabellen zu verbergen, sondern das Ungleichgewicht bekannt zu machen, um daraus Maßnahmen abzuleiten. Ich frage mich, warum das Bundeskriminalamt, die Polizeibehörden der Länder, das Kraftfahrtbundesamt oder die Statistikbehörde Destatis die alarmierenden Zahlen nicht regelmäßig und prominent ins Zentrum der Öffentlichkeit rücken.

Im zweiten Teil des Buches sprechen Sie von “nicht messbaren” Nebenwirkungen männlicher Rollen. Was meinen Sie damit?

von Heesen: Letztendlich basiert mein Zugang zum Thema ja auf einem Trick. Ich verwende die geheime Sprache, das zentrale Schmiermittel des Kapitalismus, nämlich das Geld, um auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen hinzuweisen. Dabei nutze ich amtliche Statistiken und öffentlich verfügbare Kostendaten. In vielen Lebensbereichen aber, die von patriarchalen Strukturen durchzogen sind und in der Folge zu schädlichen Verhalten führen, stehen keine solchen Daten zur Verfügung. Kaum messbare Nebenwirkungen des Patriarchats ergeben sich zum Beispiel durch antifeministische Strömungen, doch die Folgen lassen sich bisher kaum quantifizieren.

“Der Hass von Männern belastet das Zusammenleben enorm”

Das Gunda-Werner-Institut beteiligt sich an dem aus Bundesmitteln unterstützten Projekt “Antifeminismus begegnen - Demokratie stärken”. Wie schädigen antifeministische Ressentiments die Gesellschaft?  

Sozialarbeit: 1,96 Milliarden

Deutlich mehr Jungen als Mädchen sind Zielgruppen der Sozialpädagogik und von Jugendämtern. Sie benötigen zum Beispiel “Hilfen zur Erziehung” oder “Eingliederungshilfe”. Zusätzliche Kosten 1,96 Milliarden Euro.

Eingesperrte Männer: 3,02 Milliarden   

Durchschnittlich 130 Euro kostet den Staat ein Tag im Gefängnis. 94 Prozent der Häftlinge sind männlich, nur sechs Prozent weiblich. Die jährlichen Aufwendungen für den “Justizvollzug” summieren sich auf 3,23 Milliarden Euro; der Männeranteil beträgt demnach 3,02 Milliarden Euro.

Verkehr: 2,51 Milliarden

Zwei Drittel aller Autobesitzer sind Männer, mit steigendem Hubraum wächst ihr Anteil. Prestigeträchtige Marken wie Ferrari oder Jaguar sind zu über 90 Prozent auf männliche Halter eingetragen. Verkehrsunfälle mit Personenschaden kosten pro Jahr knapp acht Milliarden Euro. Auf männliche Fahrzeuglenker entfallen 5,21, auf weibliche 2,7 Milliarden, der Gender Gap beträgt also 2,51 Milliarden Euro. 83 Prozent der eingezogenen Führerscheine gehören Männern, sie stellen 78 Prozent der geahndeten Geschwindigkeitsübertretungen und 77 Prozent der Registrierten mit einem Punktekonto “in Flensburg”. Autoposer und riskante Wettrennen auf Großstadtstraßen sind ein fast ausschließlich männliches Phänomen.

von Heesen: Der Hass von Männern, ausgeschüttet über Frauen insbesondere im anonymen digitalen Raum des Internets, belastet die Lebensqualität und das Zusammenleben enorm. In den allermeisten Fällen sind die Angriffe von antifeministischen Motiven getrieben, diese Männer lehnen Gleichberechtigung, weibliche Selbstbestimmung und die Kernziele des Feminismus ab. Auch dadurch entstehen enorme Kosten, die leider noch nicht angemessen erforscht sind. Bedrohte Frauen nehmen sich zum Beispiel Rechtsbeistände, sie erstatten Anzeigen, Ermittlungsbehörden werden aktiv und nicht wenige Betroffene müssen psychologische Unterstützung in Anspruch nehmen. Die dunkle Seite der Sexualität mit ihren strukturell misogynen pornografischen Darstellungen, die Wirkmacht von Gangsta Rap und die Prostitution sind weitere Felder in diesem Kontext. Hier sind die Auswirkungen ebenso schwer zu monetarisieren.  
 
Welche Lösungen zeigen Sie auf?

von Heesen: Die erste praktische Maßnahme wäre die systematische Veröffentlichung aller Statistiken, die Belastungen abbilden und die maßgeblich von Männern angeführt werden. Denn verlässliche Daten über die Schieflagen sind die Grundlage, um notwendige Veränderungen einzuleiten.

Was kann man gegen antifeministische Haltungen tun, die ja teils eine Nähe zu neu-rechten Ideologien aufweisen?

von Heesen: Digitalem Hass im Netz muss durch konsequente Verfolgung und abschreckende Strafen begegnet werden. Zusätzlich könnten Kommunikationskampagnen, die Einzelfälle aus der Anonymität herausholen, präventiv versuchen, hassende Männer für die Folgen und das Leid der angegriffenen Frauen zu sensibilisieren. Sexistische Rapsongs oder den massenhaften Konsum von Pornografie im Netz mit männlichen Jugendlichen zu problematisieren ist eine große Herausforderung. Die Kraft der Peergroups macht es oft schwer, in eine konstruktive Debatte einzusteigen. Das sollte die pädagogischen Fachkräfte in Schule und Ausbildung aber nicht abschrecken, sich an diese Themen heranzuwagen.

Sie fordern die Überwindung von Rollenstereotypen. Wie soll das in der Praxis umgesetzt werden?

Fußballspiele: 0,17 Milliarden

Durch die Präsenz gewaltbereiter, ganz überwiegend männlicher Hooligans fallen allein in den obersten vier Ligen 2,44 Millionen zusätzliche Polizeistunden pro Saison an. Diese Einsätze kosten jährlich rund 165 Millionen Euro. Hinzu kommen noch die Ausgaben der Vereine für private Sicherheitsdienste.   

Wirtschaftskriminalität: 1,57 Milliarden

Der Cum-Ex-Skandal, Manipulationen an Dieselmotoren oder die Betrügereien beim Kreditdienstleister Wirecard sind eine Männerdomäne. 76,5 Prozent der Delikte in diesem Feld gehen auf männliche Konten. Gesellschaftliche Mehrkosten 1,57 Milliarden Euro.    

von Heesen: Geschlechterklischees sind eine zentrale Quelle für ungesundes männliches Verhalten. Schon Jungen sollen stark, durchsetzungsfähig, laut und mutig sein, Mädchen dagegen angepasst, fürsorglich und ausgleichend. Ich plädiere dafür, diese Wand der Stereotype früh aufzubrechen. Viele Eltern haben nach der Geburt eines Kindes Kontakt mit den Jugendämtern. Entsprechend geschultes Personal kann sie für eine klischeefreie Erziehung sensibilisieren. Auch die Lehrpläne der Aus- und Fortbildungen von Fachkräften in Kitas, Schulen und sozialen Trägern sollten um geschlechtersensible Elemente ergänzt werden. Regelmäßige Workshops oder Aktionswochen können männlichen Jugendlichen Türen öffnen, um wirklich zu sich zu finden, statt von eindimensionalen Klischees getrieben zu werden. Zudem brauchen wir Marketingkampagnen, um das Verhalten von Männern im Straßenverkehr positiv zu beeinflussen, und müssen das Bewusstsein für Männergesundheit schärfen. Und wir benötigen wirksame Instrumente, um der Verfestigung der Geschlechterrollen durch Medien und Werbung entgegenzuwirken. Das dauert alles und das kostet, aber ich bin überzeugt, dass sich solche Investitionen lohnen würden.

Was kann die Polizei tun, was die Justiz?

von Heesen: Die Sicherheitsbehörden sollten das vorhandene Datenmaterial unbedingt nutzen, um auf das Geschlechterungleichgewicht aufmerksam zu machen. So wird der Druck auf die politisch Verantwortlichen erhöht. Zudem könnten schon in den Ausbildungs- und Studiengängen von künftigen Polizisten oder Justizbeamtinnen die gesamtgesellschaftlichen Folgen ungesunder Rollenmuster thematisiert werden.

Was können Sozialarbeit und Männerberatung beitragen?

von Heesen: Ich plädiere für ein flächendeckendes bundesweites Netzwerk von Beratungsangeboten für Männer, damit diese in Krisensituationen oder heraufziehenden Krisen überall qualifizierte Unterstützung bekommen. Der fehlende Zugang zu den eigenen Gefühlen, zur eigenen Innenwelt ist in vielen Fällen die Ursache für schädliches männliches Verhalten. Soziale Träger sollten auch mehr Gender-Angebote in der Jungenarbeit bereitstellen. So kann die eigene Rolle reflektiert und ein positives Bild von Männlichkeit entwickelt werden.

Gesamtbilanz: mindestens 63,5 Milliarden

Boris von Heesen summiert die (vorsichtig berechneten, viele Aspekte nicht berücksichtigenden) volkwirtschaftlichen Kosten von schädlichem männlichen Verhalten auf insgesamt 63,5 Milliarden

Was fordern Sie von der Politik?

von Heesen: Auf Bundesebene wünsche ich mir einen digitalen Gleichstellungsmonitor, der alle relevanten Statistiken übersichtlich für alle Menschen zugänglich macht. So können Medien, Wissenschaft, Pädagogik und andere Interessierte verlässlich aus einer zentralen Informationsquelle schöpfen und daraus Veränderungsprozesse ableiten.

 

Der Gesprächspartner
Boris von Heesen, geboren 1969, ist Wirtschaftswissenschaftler mit ersten beruflichen Stationen bei der Diakonie in Bayern und der Drogenhilfe in Frankfurt am Main. Derzeit ist er geschäftsführender Vorstand eines Jugendhilfeträgers in Darmstadt, nebenberuflich engagiert er sich dort in einer Männerberatungsstelle.

Das Buch
Was Männer kosten. Der hohe Preis des Patriarchats. Heyne Verlag, München 2022. 304 Seiten, 18 Euro.

Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autor*innen die Verantwortung.